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Geschichte des Hauses

Das Haus in der Nowowiejska Str. 38 wurde um 1882 als Sommerresidenz für den Breslauer Brauereibesitzer Adolph Sindermanns erbaut, etwa 30 Jahre bevor die Familie Stein das Haus bezog. Die im neoklassizistischen Stil erbaute Villa verfügte über zwei Stockwerke, ein Zwischengeschoss, ein Untergeschoss und ein Hochparterre. Mit seiner blauen Fassade und den dekorativen Elementen aus gelbem Sandstein unterschied es sich von den anderen Gebäuden in der Gegend. Im Innern fiel besonders das fächerförmige Treppenhaus mit seiner Metallkonstruktion in Auge.

Heute ist das Haus von Mietshäusern umgeben, Ende des 19. Jahrhunderts jedoch lag es inmitten von Grünflächen. Die heutige Nowowiejska Straße war dem Dorf Polnisch Neudorf zugehörig, dies gehörte bis 1810 zur Abtei Elbing (Ołbin). Im Jahr 1808 wurde das Dorf in die Verwaltungsgrenzen der Stadt Breslau aufgenommen. Der Name der Straße wechselte immer wieder. Im Jahr 1942 hieß sie Polnisch Neudorfstrasse, 1843 war sie bekannt als Michaelisgasse und im Jahr 1859 als Michaelisstrasse. Die Gebäude auf dem Grundstück, auf dem später die Villa der Steins stand, wurde überlicherweise als „Vier Türme“ bezeichnet und sind unter diesem Namen in den Breslauer Adressbüchern aufgeführt. Das Grundstück trug die Nummer 15 und maß eine größere Fläche als heute. Der erste bestätigte Eigentümer des Grundstücks, aufgeführt für 1843, war der Stadtrat Selbstherr. Im Jahr 1855 kaufte der Brauereibesitzer Adolph Sindermann das Grundstück mit allen Gebäuden darauf. Auf dem hinteren Teil des Anwesens gab es zu dieser Zeit einen Volksgarten sowie ein Restaurant und ab 1877 war das Parktheater „Polischinell Theaters“ dort ansässig. Im Jahr 1901 wurde die Straße neu nummeriert und das Haus erhielt die Nummer 38. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts erfolgte eine Verkleinerung des Grundstücks „Vier Türme“ durch die Abgabe eines Teil der Fläche an den Breslauer Beamten-Wohnungsverein.

Im Jahr 1910 erwarb Auguste Stein die Villa mit dem dazugehörigen Garten. Vier ihrer sieben lebenden Kindern zogen in das Haus in der Michaelisstrasse mit ein, die anderen führten bereits eigene Haushalte. Paul heiratete 1901 Gertrude Werther und gemeinsam wohnten sie in Breslau in der Yorckstr. 16 (heute ul. Jemiołowa). 1903 heiratete Else Max Gordon und lebte mit ihm in Hamburg. Elfriede (Frieda) heiratete 1909 Salo Tworoger, mit dem sie ebenfalls in Breslau wohnte. Kurz nach Auguste Steins Hauskauf heiratete Arno Martha Kaminksi. Das junge Ehepaar zog mit in die Michaelisstrasse und wohnte dort gemeinsam mit der Mutter Auguste und den Schwestern Rosa, Erna und Edith. Im Jahr 1911 kam Elfriede (Frieda) nach der Trennung von ihrem Mann mit ihrer sieben Monate alten Tocher Erika hinzu.

An diese Ereignisse erinnert sich Edith: „Das geräumige Wohnhaus, das wir kurz nach Friedas Hochzeit bezogen hatten, war für zwei Familien gebaut; es war vertikal geteilt und hatte zwei Treppenhäuser. Arno und Martha wurden in dieses Haus mit aufgenommen. Eine Zeit lang bewohnten wir gemeinsam die größere Seite und hatten die kleinere vermietet. Später erhielt das junge Ehepaar die kleinere Seite für sich und meine Mutter mit ihren vier Töchtern und der kleinen Enkelin Erika die größere.“

So blieb die Wohnsituation bestehen, bis 1920 Erna Hans Biberstein heiratete und mit ihm in das Dachgeschoss zog. 1928 verließ dann Arno mit seiner Familie das Haus, da sie eine eigene Wohnung bezogen. 1933 Jahr verließen auch die Bibersteins die Villa und im selben Jahr Edith, um in den Karmel in Köln zu gehen.

Der Betrag, für den Auguste Stein das Haus gekauft hatte, ist nicht bekannt. Das Haus lag ganz in der Nähe des Holzplatzes, den Auguste Stein noch in hohem Alter täglich aufsuchte. Ediths Nichte Susanne Batzdorff (geb. Biberstein) erinnert sich an den Eindruck, den das Haus auf seine Bewohner und Gäste hinterließ:

Das Haus war ein solider Bau und fiel in seiner Umgebung mit düsteren Mietshäusern, die zumeist von Familien der Arbeiter- oder Beamtenklasse bewohnt waren, als ein recht vornehmes Gebäude auf. Die Fassade war mit Stuck verziert, und vor dem Haus befand sich ein kleiner Blumengarten mit einem schmiedeeisernen Zaun und Gartentür.“

In ihrer Autobiografie, in der sie einen Tag ihrer Abiturprüfung, den 03. März 1911 beschreibt, erinnert sich Edith Stein an den Besuch ihrer Freundin Julia Heimann, die sie in einer Pause der mündlichen Prüfungen zu sich nach Hause einlud: „Besonders die breite Eichentreppe und der „Saal“, in dem ich sie aufnahm, imponierten ihr. Auch ließ sie sich etwas von der heißen Schokolade und dem süßen Gebäck geben, als meine Schwester es brachte. (…) Der Aufenthalt in unserem Haus musste einen gewaltigen Eindruck hinterlassen haben, denn ihre Freundin Toni Hamburger konnte noch nach Jahren unterschiedliche Einzelheiten wiederholen.“

Über viele Jahre, bis 1928, bewohnte Arno mit seiner Frau Martha und den vier Kindern Wolfgang, Eva, Helmut, und Lotta einen Teil des Erdgeschosses links vom Eingang. Ihre Räume bestanden aus dem Schlafzimmer der Eltern, den beiden Zimmern der Kinder, der Küche und dem Esszimmer. Auf der gegenüberliegenden Seite im Erdgeschoss hatte Erna Stein, Absolventin des Medizinstudiums an der Universität Breslau, in zwei aneinanderliegenden Zimmern ihre gynäkologogische Praxis. Im hinteren Teil des Hauses, hinter Ernas Praxis, lagen Ernas Küche und Esszimmer. 

Das erste Stockwerk war der beeindruckenste Teil des Hauses. Der Salon, der größte und schönste Raum des Hauses, war der Ort für Familientreffen, Feste und besondere Anlässe. Nebenan war der Herrensalon, der als Raucherzimmer diente. Beide Zimmer waren geräumig und mit Parkett ausgelegt. Im hinteren Teil dieses Stockwerks befanden sich die Schlafzimmer von Auguste Stein, ihren Töchtern und Enkeln. Dazwischen lagen die Badezimmer.

Das Dachgeschoss diente hauptsächlich als Keller und Dachboden. Zudem gab es dort noch einige Gästezimmer. Vor 1920 bewohnten Erna und Edith eins der Zimmer. Weitere Zimmer wurden an Arbeiter aus dem Holzgeschäft vermietet, z. B. an Herrn Seidler und seine Frau, die aus Oberschlesien kamen. Weitere, in den Adressbüchern aufgeführte Mieter sind A. Stern und W. Schmidt.

Im Vergleich zu anderen Bewohnern des Hauses ist festzustellen, dass Edith Stein ab 1913 eher als Besucherin denn als ständige Bewohnerin in diesem Haus lebte. An diesen Umstand erinnerte sich Jahre später ihre Nichte Susanne Batzdorff: 

Als Tante Edith 1912 ihr erstes Studienjahr in Breslau beendet hatte, merkte sie, dass sich ihre Interessenslage geändert hatte. Sie wollte nach Göttingen gehen, um bei Edmund Husserl, dem Begründer der Phänomenologie (…) zu  studieren. So kam es, dass Edith Stein fast gar nicht in diesem Haus gelebt hat, welches jetzt als das „Edith-Stein- Haus“ bekannt geworden ist, obwohl sie es jedesmal besuchte, wenn sie in Breslau Ferien machte. Tatsache ist, dass Edith, obwohl dieses Haus von 1910 bis zu ihrem Eintritt in den Karmel ihr Zuhause war, zumeist woanders wohnte und nur in den Ferien oder etwa während des Ersten Weltkrieges auf längere Zeit heimkam.“

Der Aufenthalt Ediths in dem Familienhaus war für die Bewohner immer ein freudiges Ereignis, vor allem für Auguste Stein: „Mir hat meine Mutter – aus Freude, dass ich da bin – den großen Saal im ersten Stockwerk zur Verfügung gestellt, um dort zu arbeiten“- erinnert sich Edith. Der Saal war der Ort, an dem Edith gelernt und ihre Gäste empfangen hat.

Der Salon war der beeindruckendste Raum des Hauses, erinnert sich Ediths Neffe, Ernst Ludwig Biberstein: „Auf der Südseite des ersten Stockes lagen die zwei Prunkräume des Hauses, ein elf Meter langer „Saal“ mit vier Riesenfenstern und ein anschließendes kleineres, aber immer noch reichlich bemessenes „Herrenzimmer“. Manche Einzelheiten dieser Zimmer sind mir noch im Gedächtnis: der Saal hatte einen Parkettfußboden aus verschiedenfarbigem Holz in großem Rhombenmuster. An der Südostecke des Saales stand der Bechsteinflügel meiner Mutter, ein Instrument, im Rückblick, von den Ausmaßen einer Düsenpiste, für das in unserer kleinen Mansardenwohnung kein Platz war. Das einzige Möbelstück, das sich an Dimensionen und Gewicht mit diesem eventuell messen könnte, war der monumentale Esstisch, ein Ungetüm mit spiralig gedrechselten Beinen von gewaltigem Umfang. Zu feierlichen Familienfestlichkeiten konnte sich der Tisch noch dazu auf fast phallische Weise zu beängstigender Länge ausdehnen durch Einlage von unzähligen Platten, bis er den Saal völlig ausfüllte. Dies geschah zum Beispiel laut Überlieferungen zur Feier der Hochzeit meiner Eltern und, zu meinen Lebzeiten, des achtzigsten Geburtstags meiner Großmutter. Ein anderes Möbelstück im Saal, an das ich mich noch recht wohl erinnere, ist der schwarz gebeizte Schreibtisch von Tante Edith mit dem dazu gehörigen, übrigens recht unbequemen Schreibtischsessel davor.“

Der Saal diente Edith auch als Ort für ihre privaten philosophischen Seminare, wie sie selbst in einem Brief an Fritz Kaufmann erwähnt: „Von mir habe ich Ihnen zu berichten, dass ich mir faute de mieux selbst die venia erteilt habe und in meiner Wohnung Vorlesungen mit Übungen halte (Einleitung in die Philosophie auf phänomenologischer Grundlage), an denen über 30 Leute teilnehmen.“

1920-1928

Im Jahr 1920 heiratete Erna Stein ihren Studienfreund Hans Biberstein. Die Feier fand im Salon des ersten Stockwerks statt. Zeugen der Zeremonie waren neben dem Rabbiner der liberalen jüdischen Gemeinde Breslaus, Hermann Vogelstein, die Mitglieder der Familien Stein und Biberstein, darunter Edith.

Edith erinnert sich an das Ereignis: „Anfang Dezember wurde die Hochzeit gefeiert. Es waren zwei Tage dafür nötig, weil selbst unsere großen Räume für die Zahl der Gäste nicht ausreichten. Zur kirchlichen Trauung mit dem anschließenden Hochzeitsmahl waren nur die Geschwister des Brautpaares mit ihren Kindern und die Geschwister der Eltern eingeladen (d.h. zur Trauung kamen alle Verwandten und Bekannten, aber die ungeladenen Gäste zogen sich sofort danach zurück). Bei unserer ausgedehnten Familie ergab dieser „engste Kreis“ noch eine Tafel von über 50 Personen. Die kirchliche Trauung fand bei uns im Hause statt. Ich richtete mit meinem Bruder Arno zusammen den Saal dafür her. Bei den jüdischen Trauungen sitzt die Braut zunächst auf einem abgesonderten Platz, während der Bräutigam mit dem Rabbiner und den anderen Männern – es müssen mindestens zehn sein – in einem andern Raum betet. Dann spricht der Rabbiner einen Segen über sie, ehe sie der Bräutigam in feierlichem Zuge zum eigentlichen Trauakt unter den „Brauthimmel“ holt. Wir stellten den Sessel für Erna an einen Pfeiler zwischen zwei Fenster, wo sonst mein Schreibtisch stand. Darüber hing ein Bild des Hl. Franziskus von Cima.“

Das junge Paar zog in die zweite Etage, das damalige Dachgeschoss, das sie bis 1928 bewohnten. Jahre später erinnert sich Ernst Ludwig Biberstein an die Wohnung: „Unsere Familie hauste unter dem Dach. Die südliche Partie des Bodens war in eine Vierzimmerwohnung ausgebaut worden, als meine Eltern heirateten. Das östlichste Zimmer mit zwei Fenstern war unsere gute Stube. Nebenan war die Küche, ein ziemlich großer Raum, in dem, durch einen Vorhang abgegrenzt, eine Art Mädchenzimmer inbegriffen war. Die sich anschließende fensterlose Wand bezeichnet die Strecke, wo innen ein langer, dunkler Korridor die östlichen von den westlichen zwei Stuben trennte. Diese letzteren waren das Schlafzimmer meiner Eltern und schließlich unser Kinderzimmer. An der Nordseite dieses Dachgeschosses waren zwei große Bodenräume, hauptsächlich zum Wäschetrocknen bestimmt und zum Speichern von Koffern und anderem Hausrat, der nicht ständig benutzt wurde. Im westlichen dieser zwei Räume befand sich, in einem kleinen Bretterverschlag, unser Klosett. Obwohl ich mich an solche Einzelheiten nicht erinnere, scheint es mir jetzt,  dass die Benutzung dieses Klosetts im Winter ein spartanisches Unternehmen gewesen sein muss, denn die Böden waren natürlich nicht geheizt. Die anderen Zimmer wurden von Kachelöfen gewärmt, während der Rest des Hauses schon zentrale Dampfheizung hatte – ziemlich außergewöhnlich in dieser recht bescheidenen Wohngegend Breslaus.“

Für eine bestimmte Zeit, bis 1928, lebte in der Michaelisstr. 38 auch die jüngere Schwester Augustas, Frederike, diese war nach mehreren Schlaganfällen gelähmt und bettlägerig. Gepflegt wurde sie hingebungsvoll von der weitaus jüngeren Schwester Clara. Beide waren in einem kleinen Zimmer neben Augustas Schlafzimmer im ersten Stockwerk untergebracht. 

1928-1933

Im Jahr 1928 kam es zu einer umfassenden Umstellung im Haus. Aus dem Erdgeschoss zogen Arno, Martha und ihre vier Kinder aus, die Bibersteins mit den Kindern Susanne und Ernst-Ludwig verließen das Dachgeschoss und bezogen Zimmer im ersten Stock. Zu den Bibersteins hinzu kam Dorothea Biberstein, die Mutter von Hans, die herzkrank war und Pflege benötigte. Auguste Stein bewohnte mit ihren Töchtern und der Enkelin den westlichen Teil des Hauses, der zuvor von Arno und seiner Familie bewohnt worden war. Auf der Westseite des Erdgeschosses befanden sich das Wohnzimmer von Auguste und das Zimmer von Edith, ein Vorraum und dahinter Augustes Küche und Rosas Zimmer. Im östlichen Teil des Erdgeschosses hatte Erna weiterhin ihre gynäkologische Praxis, dahinter lagen sie Küche und der Frühstücksraum der Bibersteins.

Im ersten Stock wurde der große Saslon in ein Esszimmer und ein Schlafzimmer für Erna und Hans umgewandelt, das Raucherzimmer zu einem Arbeitszimmer für Hans. Im hinteren Teil des ersten Stockwerkes, auf der anderen Seite des Korridors, lagen die Zimmer von Auguste und Elfriede (Frieda), den Kindern Susanne und Ernst Ludwig sowie das Zimmer von Dorothea Biberstein und ein Badezimmer. 

Im zweiten Stockwerk, im südlichen Teil, war Erika untergebracht, ebenso das Dienstzimmer sowie ein weiteres Schlafzimmer von Erna und Hans Biberstein. Im hinteren Teil des zweiten Stocks blieben Keller und Dachboden.

1933-1939 

Das Jahr 1933 brachte auch im Leben dieser Bewohner viele Veränderungen mit sich. Susanne Batzdorff erinnert sich an diese Ereignisse: „Ich war gerade 12 Jahre alt geworden, und wir waren gerade dabei, in eine neue Wohnung umzuziehen. Es war eine traurige Zeit für unsere Großmutter und für uns, denn wir würden nun nicht mehr unter demselben Dach in ihrem geräumigen Haus in der Michaelisstrasse wohnen, wo mein Bruder und ich geboren waren. Unsere Großmutter würde uns nicht mehr täglich sehen. Doch was ihr weit größeren Kummer bereitete, war, dass Tante Edith, meine geliebte Tante, die jüngere Schwester meiner Mutter und Großmutters jüngstes Kind, ihr gerade mitgeteilt hatte, dass sie in einen religiösen Orden, den Karmel, eintreten würde.“

Im Herbst 1933 zogen die Bibersteins in die Kaiser-Wilhelm-Strasse (heute ul. Powstańców Śląskich). Im selben Jahr, am Tag nach ihrem Geburtstag, verließ Edith ihr Zuhause in Breslau für immer und trat in den Karmel in Köln ein.

Im Adressbuch von 1936 ist Auguste Stein noch als Eigentümerin des Hauses eingetragen, ihre Tochter Elfriede (Frieda) Tworoger ist als Bevollmächtigte aufgeführt. Im selben Jahr, nach dem Tod von Auguste Stein, wurden Rosa und Elfriede (Frieda) Eigentümerinnen des Hauses. Da sie mit großen finanziellen Schwierigkeiten umzugehen hatten sahen sie sich gezwungen, einen Teil des Hauses an die evangelische Gemeinde der Elftausend-Jungfrauen-Kirche zu vermieten. In dieser Zeit lebten drei Konfessionen unter einem Dach: die jüdische, katholische und evangelische.

1939-1945 

Im Jahr 1939 wurde der Familie Stein das Anwesen aufgrund der Arisierung jüdischen Eigentums von den NS-Behörden entzogen. Laut des „Verzeichnisses von Eigentümerwechseln in der Katasterverwaltung Breslau-Odervorstadt“ übernahm ein neuer Eigentümer das Haus in der Michaelisstraße 38 mit Garten und Hof, Maurermeister Oskar Jandel aus Breslau. Das Gebäude überstand glücklicherweise den Zweiten Weltkrieg.

1945-1995 

Nach dem Verschwinden des damaligen Besitzers Oskar Jandel 1945 ging das Haus in Staatsbesitz über. 1951 spendete die Stadt Breslau (Wrocław) das Haus an die Filmverleihanstalt „Odra-Film“, um den Abriss des Hauses und den Bau eines Hotels zu vermeiden. Verwendet wurde das Haus in den folgenden Jahren außerdem als Schulungszentrum und Internat. Ab 1991 war das Gebäude ungenutzt und begann zu verfallen.

Im Januar 1990 wandte sich die Edith-Stein-Gesellschaft mit der Initative, das Haus zu restaurieren, an den Stadtpräsidenten Breslaus (Wrocławs). Noch im selben Jahr wurde das Haus als Kulturerbe in die Denkmalliste aufgenommen. Möglich war dies dank des einzigartigen Treppenhauses und der Fassade, die uns an die frühere Pracht des Hauses erinnern.

Anlässlich des 50. Todestags von Edith Stein wurde 1992 an der Fassade des Hauses rechts von der Eingangstür eine Gedenktafel enthüllt, die in polnischer, deutscher und hebräischer Sprache darauf hinweist, dass Edith Stein von 1910 bis 1933 in diesem Haus lebte. An der gleichen Stelle war früher das Schild angebracht, welches über die im Haus betriebene gynäkologische Praxis von Dr. Erna Biberstein informierte.

Die Edith-Stein-Gesellschaft konnte Anfang der 1990er Jahre jedoch noch nicht mit den Renovierungsarbeiten beginnen, da das Gebäude weiterhin Eigentum der Firma „Odra-Film“ war. Die einzige Lösung bestand im Kauf des Hauses. Die Verwaltung von „Odra-Film“ willigte 1995 in den Verkauf ein. Die Gesellschaft unternahm alle Anstrengungen, um die erforderlichen Mittel für den Kauf aufzubringen. Sie verschickte Broschüren in mehreren Sprachen, in denen sie um Untersützung bat. Die Broschüren informierten über die Pläne zur Einrichtung eines Zentrums für den polnisch-deutsch-jüdischen und den christlich-jüdischen Dialog im ehemaligen Haus der Familie Stein. Die Gesellschaft reichte zahlreiche Anträge bei verschiedenen Institutionen und Stiftungen ein. Nachdem zuerst die Stadt die Immobilie durch einen Tausch übernommen hatte, verkaufte sie diese nun der Gesellschaft, jedoch mit einer Hypothek. Auf der Grundlage eines Antrags und dank der Unterstützung und des Engagements vieler Menschen aus Regierung, Politik, Kirche und Nichtregierungsorganisationen aus Polen und Deutschland, war es möglich von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit umfassende Mittel für die Rückzahlung der Hypothek und die Renovierung des Hauses zu erhalten.

Im Jahr 1996 begannen die Renovierungsarbeiten und das Haus erhielt ein neues Antlitz. Gänzlich neu wurde dem Gebäude ein Stockwerk mit einer Glasfassade hinzugefügt. Diese Idee, die anfangs sehr innovativ und umstritten war, fand später allgemeine Anerkennung und erhielt symbolische Bedeutung. Sie markiert den Wechsel von der alten zur neuen Substanz. Heute ist zu sehen, dass die beiden Teile harmonisch zu einem Ganzen verschmelzen. Mit dem neuen Stockwerk wurden zusätzliche Büroräume und Gästezimmer geschaffen. Früher gab es einen Durchgang von der massiven Eingangstür bis zum Innenhof, dieser wurde durch den Anbau eines Fahrstuhls geschlossen. Um den Fahrstuhlschacht herum entstand eine Veranda. Im Hinterhof, in einem kleinen Garten der über die Veranda zu erreichen ist, steht eine große Kastanie, die noch aus Ediths Zeiten stammt.

Die Bildhauerin Alfreda Poznańska, Professorin an der Akademie der Schönen Künste in Breslau (Wrocław), schuf die Kartusche über der zentralen Fensterfront. Die vormalige Existenz von Figuren und einem Medaillon, die an dieser Stelle angebracht waren, bestätigt ein Archivfoto. Die allegorischen Figuren wurden rekonstruiert, es war aber nicht mehr möglich die Inschrift auf dem Medaillon zwischen den Figuren zu entschlüsseln. Daher wurde beschlossen sich auf den früheren Namen der Straße (Michaelisstraße) und die Pfarrkirche (St.-Michaelis-Kirche) zu berufen. So brachte die Künstlerin die Inschrift „MICHAEL“ auf dem Medaillon an. Dieses Wort hat eine tiefgreifende Bedeutung, da es im Hebräischen bedeutet: „Wer ist wie Gott?“ Ein Gipsabdruck der Kartusche befindet sich im Edith-Stein-Haus.

In den folgenden Jahren wurden von zahlreichen Einrichtungen Zuschüsse für die Renovierung gewährt: Vom polnische Kulturministerum, dem städtischen Denkmalpfleger in Breslau (Wrocław), dem Marschallamt von Niederschlesien, aus Mitteln des Karmels in Köln und von deutschen Bischöfen. Im Juni 2001 kehrten zwei Originalmöbel in das Haus zurück. Diese waren 1938 von Erna und Hans Biberstein aus Breslau (Wrocław) in die Vereinigten Staaten transportiert worden. Dies wurde möglich dank der Familie von Edith Stein, der finanziellen und organisatorischen Unterstützung der amerikanischen Edith Stein Guild, der deutschen Edith-Stein-Gesellschaft und der niederländischen Stichting Dr. Edith Stein.

Zwischen 2002 und 2004 wurden die Räume im ersten Stock teilweise renoviert, darunter auch der Salon „Edith Stein“. Im Jahr 2005 wurden die Räume im Erdgeschoss renoviert, darunter das große Zimmer rechts vom Eingang, in dem sich Ernas Gynäkologische Praxis befand sowie ein Teil des Kellers, in dem der „Kulturkeller“ eingerichtet wurde. Dort finden künstlerische und kulturelle Veranstaltungen vor allem für junge Menschen statt.

Gegenwärtig organisiert das Haus Vorträge, Ausstellungen und Konzerte, Filmvorführungen und Lesungen, Sprachkurse und Jugendbegegnungen. Es verfügt auch über eine Bibliothek, deren polnisch und deutschsprachige Sammlung die Werke von Edith Stein sowie Literatur zu ihrer Person enthält.