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Leben im Edith-Stein-Haus. Eine Reflexion von Olena Dobosh

Die Autorin des folgenden Artikels ist Olena Dobosh aus Lwiw (deutsch: Lemberg), Doktorandin an der Fakultät für Psychologie der Universität Warschau und an der Fakultät für Sozialwissenschaften des Instituts für Internationale Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Stipendiatin des Netzwerks Sieci Ziem Zachodnich i Północnych, das über Erinnerung und Identität von Orten forscht. Während ihres Forschungsaufenthalts im Herbst in Breslau (Wrocław) wohnte sie im Edith-Stein-Haus. Gemeinsam mit Anna Siemieniec, Gästeführerin im Haus, leiteten sie am 13. Oktober 2019 die Veranstaltung „Identität des Ortes – Erinnerung des Ort. Ein Gespräch über das Edith-Stein-Haus“.

Es gibt Orte, an denen die Zeit stehen bleibt. Orte, an denen man den Wert des „Hier und Jetzt“ spürt. Das Haus, in dem ich im September/Oktober 2019 gewohnt habe, lädt zum „darinnen sein“ ein, ermutigt zum „darinnen und dabei sein“. Die Stille und der Frieden, von denen es erfüllt ist, schaffen eine Atmosphäre, die an die Ewigkeit erinnert, und man hat das Gefühl, dass es die Vergangenheit und die Zukunft miteinander verbindet.

Dieses Haus steht für sich allein, ist unabhängig von den Menschen und allem, was darum herum passiert (die Stimmen der Kinder aus dem Kindergarten, die Renovierungsarbeiten im Hof, das Geräusch der Straßenbahn). Es ist Teil des Viertels und der ul. Nowowiejska, aber gleichzeitig liegt es abseits von diesem Leben. Ein Haus, das seine eigenen Geschichten und Erzählungen trägt, die es einem aber nicht aufdrängt, sondern uns einlädt, sie kennen zu lernen …

Mit diesen Worten beschrieb ich die ersten Tage meines Aufenthalts im Edith-Stein-Haus in der ul. Nowowiejska 38.

Als ich am 14. September 2019 in Wrocław ankam, besaß ich eigentlich nur die Adresse und ein allgemeines Wissen über die Person Edith Stein, ein Online-Wissen. Das Haus, in dem ich wohnte, bot mir nicht nur einen angenehmen Aufenthalt, es hat mich auch in die Welt der Menschen eingeführt, die einst hier lebten und die es heute ausmachen.

Wie unterscheidet sich ein Haus von einem Wohngebäude? Was nennen wir ein Haus?

Zuallererst ist das Zuhause ein besonderer Ort, ein wichtiger Ort, der die meisten psychologischen Grundbedürfnisse des Menschen befriedigt. Zu Hause fühlen wir uns beschützt, wir haben ein Gefühl der Sicherheit. Durch die Erfahrung des Wohnens zu Hause, lernen wir die sozialen Verhältnisse kennen, wir lernen, was zu uns, zu unserem Zuhause, gehört und was fremd ist (wir erinnern uns an die Aussagen aus unserer Kindheit: „Ein Haus, das allen offen steht“ sowie „Keine Fremden ins Haus lassen, wenn die Erwachsenen nicht da sind“). Das Zuhause bietet ein Gefühl der Kontinuität, ein Verständnis für die Grenzen der Privatsphäre und ist eine der Grundlagen für die Bildung einer persönlichen und sozialen Identität.

Ein Haus hat eine räumliche und zeitliche Dimension. Es hat physische Merkmale: Form, architektonischer Stil, es hat seine Grenzen und einige einzigartige Elemente, die es von anderen unterscheidet. „Echte Orte“ sind einzigartig, sie haben „etwas“, das wir „Geist des Ortes“ oder „genius loci“ nennen. Das Gebäude in der ul. Nowowiejska 38 ist mit Sicherheit ein „echter Ort“ und unterscheidet sich von anderen Gebäuden in dieser Straße nicht nur durch sein einzigartiges hellblaues Dekor und seine besondere Gestalt, die an eine Sommervilla erinnert, sondern auch durch seine einzigartige Atmosphäre, die zum Entspannen und Verweilen einlädt.

Wir sehen unser Zuhause auch aus der Perspektive der menschlichen Beziehungen. In jüngster Zeit stehen diese Themen in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen im Mittelpunkt des Interesses, insbesondere in der Sozial- und Umweltpsychologie werden die Konzepte der Ortsbindung und der Ortsidentität erforscht. Die Bedeutungen, die ein Mensch einem Ort gibt, bestimmen auch, wie er sich selbst wahrnimmt.

Das Haus ist in zeitlicher Hinsicht die Grundlage der Kontinuität. Wer in einem Haus wohnt, nimmt seine eigene Kontinuität durch die Kontinuität des Hauses wahr, er ist Teil eines Raumes, der konstant ist, sich aber auch mit den Menschen verändert, die ihn verändern. Diese zeitliche Dimension spiegelt auch die Erinnerung an einen Ort wider, das, was ein Ort über seine Vergangenheit erzählt und woran sich die Menschen erinnern.

Als ich in der ul. Nowowiejska 38 in Breslau (Wrocław) ankam, sah ich an der Schwelle des Hauses einen gepflasterten „Stein des Gedenkens“ mit der Inschrift: „Hier lebte Edith Stein, geb. 1891, ermordet am 9.8.1942 in Auschwitz“. Dies war einer der Hinweise, ein Schlüssel, um die Vergangenheit des Hauses, das ich betreten hatte, zu öffnen. Während meines Aufenthalts lernte ich dank der Person Edith Tag für Tag die gesamte Familie Stein kennen, die vor dem Zweiten Weltkrieg in diesem Haus lebte. Mein Aufenthalt in diesem Haus führte mich auf den alten jüdischen Friedhof in Breslau (Wrocław), wo ich das Grab von Auguste Stein fand, der Frau, die dieses Haus für ihre Familie gekauft hatte. Dort erfuhr ich, dass dieses Jahr der 170. Jahrestag ihrer Geburt war.

Breslau (Wrocław) gehört zu den Städten, die wir „Städte mit unterbrochener historischer Kontinuität“ nennen. Aus der Sicht der Stadtgeschichte bedeutet dies, dass die Stadt zu einem bestimmten Zeitpunkt einen fast vollständigen Bevölkerungsaustausch erlebte.

Was bedeutet dies auf der Ebene der Geschichte eines einzelnen Hauses? Die Geschichte eines einzelnen Hauses hilft uns, die Geschichte einer Straße, die Geschichte eines Viertels und die Geschichte einer Stadt vom Grunde her kennen zu lernen, sie zeigt uns die Dimensionen eines Menschen, der einst hier lebte, so wie ich es heute tue.

Die Erinnerung an einen Ort ist vielschichtig, sie ist etwa wie ein Buch. Wenn man eine andere Seite aufschlägt, wird man irgendwann Teil der Geschichte.

Am Ende meines Aufenthalts hatte ich das Gefühl, die Familie, die in diesem Haus lebt, kennenzulernen, die von früher und die von heute, die Gemeinschaft der Menschen, die die Türen dieses Hauses öffnen, um einander kennenzulernen, die Abwesenden und jene, die kommen. Das gegenseitige Kennenlernen ist ein unglaublicher Wert des Zusammenseins.

Ich bin der Edith-Stein-Gesellschaft sehr dankbar, dass sie den Geist des Hauses sowie die Erinnerung und die Geschichte des Hauses aufrechterhält. Dank der Person Edith Stein kommen wir, wenn wir das Haus in der ul. Nowowiejska 38 betreten, in einen sicheren Raum, um über wichtige Themen zu sprechen. Wir befinden uns in einem Raum des interreligiösen, internationalen und zwischenmenschlichen Dialogs.

So sollte es Zuhause sein, denn die wichtigsten Gespräche finden in der Küche statt …

Wenn mich jemand nach der Geschichte von Breslau (Wrocław) fragt, wäre eine meiner ersten Empfehlungen sicherlich, das Edith-Stein-Haus in Ołbin (Elbing) zu besuchen oder, noch besser, dort eine Weile zu wohnen.