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„Es ist das Jahr 1914 … Über Edith Stein – eine Krankenschwester in einem Lazarett für Infektionskrankheiten“

Edith Stein war, wenngleich ihr das „Phänomen des Glaubens“ bereits begegnet war, weiterhin auf ihrem Weg der Suche nach der Wahrheit.

„Mitten in unser friedliches Studentenleben hinein platzte die Bombe des serbischen Königsmordes. […] Das stand fest, daß er ganz anders würde als alle früheren Kriege. Eine so entsetzliche Vernichtung würde es sein, daß es nicht lange dauern könnte.“

Ediths erster Impuls: Göttingen bei Kriegsausbruch zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. Da viele ihrer Kollegen und Professoren zum Militärdienst einberufen wurden, wollte Edith nicht tatenlos zusehen, wie sich die Ereignisse entwickelten. Sie meldete sich für einen Krankenpflegekurs an und stellt sich dem Roten Kreuz zur Verfügung. Als nach Abschluss des Kurses keine Einberufung zum Dienst erfolgte, beschloss sie, nach Göttingen zurückzukehren und sich auf ihr Abschlussexamen vorzubereiten.

„Trotz der lastenden Kriegssorgen ist wohl dieser Winter die glücklichste Zeit während meiner Göttinger Studienjahre gewesen. […] Einige Wochen vor Weihnachten stellten wir unsere Weihnachtspakete ins Feld zusammen. […]

Im November hatte ich meine Arbeiten abgeliefert und um einen möglichst frühen Termin für die mündliche Prüfung gebeten. Sie wurde auf den 14./15. Januar festgesetzt. Nur die nächsten Freundinnen in Göttingen wurden davon unterrichtet; nach Hause schrieb ich nichts davon; es sollte möglichst wenig Leute in Aufregung versetzt werden.“

Nach bestandenem Staatsexamen verließ Edith Göttingen und kehrte im Januar 1915 nach Breslau zurück. Kurze Zeit später erhielt sie einen Anruf vom Roten Kreuz. Ihre wurde mitgeteilt, dass sie in einem Lazarett in Österreich als Krankenpflegerin arbeiten könne. Sie beschloss, sofort zu gehen, obwohl ihre Mutter dagegen hielt. Ruhig und entschlossen entgegnete Edith ihr: „Dann muß ich es ohne deine Einwilligung tun.“

Für den Ernstfall impfte Erna, eine Ärztin, ihre Schwester Edith gegen Cholera und Typhus und am 7. April 1915, frühmorgens, reiste sie nach Mähren ins Lazarett.

Für Edith begann ein neuer Lebensabschnitt. Wenn er auch nur kurz währte, fünf Monate, so war er doch so wichtig, dass sie ihm in ihrer Geschichte einer jüdischen Familie ein ausführliches Kapitel widmete. Sie erlebte sich mit einer neuen, unbekannten Welt konfrontiert, die völlig anderen Gesetzen unterlag als jene, in der sie sich bisher bewegt hatte. Sie musste sich einem Regelwerk und Vorschriften unterwerfen. Sie beschrieb detailliert den neuen Ort, die Lebens- und Arbeitsbedingungen, ihre Beziehungen zu Ärzten und Krankenschwestern, die Freundschaften, die sie geschlossen hat, und die Schwierigkeiten, denen sie begegnete. Die vielen Patienten, die sie betreute, und die Ereignisse, die ihre Zeit dort begleiten, blieben ihr tief im Gedächtnis. Diese ausführliche Geschichte ist vor allem ein Zeugnis ihrer tiefen Menschlichkeit, der Achtung der Menschenwürde und ihrer eigenen Selbstbeherrschung.

Im Lazarett arbeiteten 150 Krankenschwestern und Helferinnen, die meisten von ihnen Deutsche. Die Oberschwester, Schwester Margarete, leitet es. Sie wies Edith einer Station mit Typhuspatienten zu. Die Station verfügt über vier Krankenzimmer: zwei mit je sechzig Betten für Schwerkranke und zwei mit je achtundfünfzig Betten. Die Genesenden kamen in Baracken. Jede Station verfügte über einen Arzt, zwei Krankenschwestern, zwei Helferinnen, zwei Assistenten und einen Landsturmmann. Auf der Station wurden besondere Vorsichtsmaßnahmen getroffen, da die Typhusbakterien nicht durch die Atmung, sondern durch Sekrete des Patienten übertragen werden, mit denen ein Kontakt bei der Pflege unvermeidlich war. In jedem Zimmer befand sich ein Becken mit einer Sublimatlösung, in die nach jeder Berührung des Patienten die Hände zu tauchten waren und nach Verlassen des Zimmers wusch man sich gründlich. Die Wäsche wurde direkt in Fässer mit Lysol gelegt. Nur wenige Stunden nach Ediths Ankunft wurde die Station bereits unter Quarantäne gestellt, nachdem ein akuter Fall von Flecktyphus auftrat. Das hielt das Personal jedoch nicht davon ab, eine Abschiedsfeier zu organisieren für die Versetzung eines der Ärzte auf eine andere Station. Edith war darüber empört, aber auf Drängen eines Kollegen willigte sie ein teilzunehmen. Edith, die Alkohol ablehnte, fühlte sich bei diesem Abend unwohl. Sie schrieb später: „Es war mir nichts geschehen, niemand war mir auch nur mit einem Wort zu nahegetreten. Aber der Ekel zitterte noch in mir nach und die Empörung, daß sich so etwas unter einem Dach mit Schwerkranken abspielte.“

Edith fand sich schnell in ihrer neuen Umgebung ein. Die ihr anvertraute Arbeit tat sie aus ganzem Herzen. Sie war bei den Schwestern sehr beliebt, wurde von ihren Vorgesetzten respektiert, kümmerte sich um die Kranken und half in jeder Notlage. Die Schwestern ruhten sich abwechselnd zwischen Mittagessen und Nachmittagskaffee aus. Zunächst nutzte Edith diese Zeit nicht für sich selbst, doch bald stellt sie fest, dass sie diese braucht, um Briefe zu schreiben, ihre Sachen zu ordnen und einige Besorgungen in der Stadt zu erledigen. Sie erhielt zahlreiche Briefe, vor allem von Edmund Husserl, Adolf Reinach und Fritz Kauffmann. Viele dieser Briefe sind nicht erhalten.

Edith verstand sich gut mit den Helferinnen, Krankenschwestern und Ärzten, aber nach ihrem Erlebnis hielt sie aus Vorsicht etwas mehr Abstand, blieb aber freundlich und hilfsbereit. Sie suchte vor allem die Verbindung zu den Kranken. Das ist die Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, auch wenn es dabei Schwierigkeiten zu überwinden gab.

„Es waren ja in unserm Lazarett alle Nationen der österreichisch-ungarischen Monarchie vertreten: Deutsche, Tschechen, Slowaken, Slowenen, Polen, Ruthenen, Ungarn Rumänen, Italiener. Auch Zigeuner waren nicht selten. Dazu kam noch manchmal ein Russe oder Türke. Zur Verständigung des Arztes mit den Kranken gab es ein Büchlein, das die notwendigsten täglichen Fragen und Antworten in neun Sprachen enthielt. Damit machte auch ich mich vertraut.“

Ihr Wunsch, die Grundlagen dieser Sprachen zu beherrschen, zeigt, wie sehr Edith danach verlangte, mit den Kranken in Verbindung zu treten, sie zu verstehen, ihre Leiden zu lindern, sie zu trösten, einen Brief an ihre Familien zu schreiben.

Es war ein anspruchsvoller und schwieriger Dienst. Nach zwei Wochen Arbeit war sie bereits für die Nachtschicht eingeteilt. Schon in ihrer ersten Schicht erlebte sie Sterben und Tod. Einige Tage später wurde ein weiterer Patient eingeliefert, der nach mehreren Nächten des Kampfes ebenfalls starb. Dies war eine überwältigende Erfahrung für Edith:

„Als ich die paar Habseligkeiten ordnete, fiel mir aus dem Notizbuch des Verstorbenen ein Zettelchen entgegen: Es stand ein Gebet um Erhaltung seines Lebens darauf, das ihm seine Frau mitgegeben hatte. Das ging mir durch und durch. Ich empfand erst jetzt, was dieser Todesfall menschlich zu bedeuten hatte.“

Die Typhusimpfung verringerte die Anzahl der Erkrankten erheblich. Es gab immer weniger Arbeit und am Ende ihres dritten Dienstmonats stand Edith ein zweiwöchiger Urlaub zu. Sie war jedoch der Meinung, dass sie es sich noch nicht verdient hatte und zog es vor in eine Abteilung zu wechseln, in der es mehr zu tun gab. Außerdem bat sie ihre Familie, ihr ihre Notizen für die Doktorarbeit zukommen zu lassen.

Die Lazarettleitung verlegte Edith in den Operationssaal. Bald besuchte auch ihr Bruder Arno Edith zu Pfingsten und brachte ihr Bücher und Notizen mit.

Obwohl Edith möglichst niemandem von ihrem „bürgerlichen“ Beruf erzählte, wurde sie in ihrem Freundeskreis im Lazarett bald als „die Philosophin“ bezeichnet. Bewunderung und Respekt boten ihr Schutz. Sie versteckte auch ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Volk nicht, obgleich ihr an diesem Ort manche antisemitische Äußerungen zur Ohren kam.

Im Juli kam Erna für ein paar Tage zu Besuch. Da Edith weiter arbeitete und die Pausen zu kurz waren, hatten sie nicht viel Zeit, miteinander zu reden, daher beteiligte auch Erna sich bei der Krankenpflege. Immerhin war sie Ärztin. Als die Oberschwester von Ediths Besuch erfuhr, gab sie ihr einen Tag frei und die jungen Frauen konnten eine Tageswanderung nach Helfenstein unternehmen. Sie kehrten glücklich zurück, erfreut über das schöne Wetter und die gemeinsam verbrachte Zeit.

Kurz nach Ernas Besuch wurde Edith in die chirurgische Abteilung verlegt.

Die Arbeit dort machte ihr mehr Spaß als bisher anderswo, aber auch hier kam es zu einem unangenehmen Zwischenfall. Als sie den Arm eines verletzten Patienten stützte, griff der behandelnde Arzt nach ihrer Hand. Edith konnte nicht reagieren, ohne dem Verwundeten Schmerzen zuzufügen, noch etwas sagen, ohne die Aufmerksamkeit der zahlreichen wartenden Patienten auf sich zu ziehen. „So konnte ich mich nur mit einem Blick wehren – der genügte aber, um mich zu befreien.“ Am nächsten Tag besuchte sie den Arzt in seinem Büro und erteilte ihm höflich, aber bestimmt eine Lektion.

Den gesamten Monat August verbachte Edith in der chirurgischen Abteilung. Es war der schwierigste Monat für Edith in ihrem Sanitätsdienst. Sie hatte zwei Zimmer unter ihrer Obhut, die ziemlich weit voneinander entfernt lagen; neun Betten in dem einen und vier in dem anderen. Es waren nur wenige Patienten, aber sie sind meist völlig unbeweglich; einige konnten nicht einmal selbständig essen. Edith widmete sich ganz der täglichen Pflege, aber wenn sie sich um die Patienten in dem einen Zimmer kümmerte, erhielt sie Vorwürfe, die in dem anderen vernachlässigt zu haben. Sie verzichtete auf das Frühstück und erschien früher zum Dienst, und auch am Abend schaute sie noch nach den Bedürftigsten. Edith merkte, dass ihre Kräfte nachließen und aufgrund der Überarbeitung litt sie unter Schlaflosigkeit. Es war für sie an der Zeit, Urlaub zu machen. Sie bat die Oberschwester um die Erlaubnis, am 1. September nach Hause fahren zu dürfen, diese wurde ihr auch sofort erteilt. Ihr Urlaub war nicht auf die gesetzlich vorgeschriebenen zwei Wochen beschränkt, und Edith sollte frei entscheiden, wann sie zurückkehren wollte. Sie vereinbarte mit ihrer Vorgesetzten angerufen zu werden, wenn Hilfe benötigt würde.

Bei ihrer Abreise nahm Edith, wie es in der Lazarettorganisation üblich war, einen Stapel Briefe des Lazaretts mit. Bei der Zollabfertigung wurden diese beschlagnahmt, weil sie das Zensur-Gesetz umgingen. Einige Wochen später wurde Edith vor ein Militärgericht geladen. Die erste Anhörung fand vor dem Landgericht in Breslau statt. Edith wollte nicht lügen, eher ins Gefängnis gehen, aber zugleich fordert das Rote Kreuz ihren Freispruch und der Fall wurde, zur Erleichterung der ganzen Familie, frühzeitig geschlossen.

Nach ihrer Rückkehr nach Breslau nutzte sie ihre Freizeit, um die Prüfung zur Krankenpflegehelferin abzulegen, für die sie die absolvierten sechs Monate Praxis benötigte. Anschließend bereitete sie sich auf die Griechisch Prüfung vor, die sie im Oktober erfolgreich ablegte. Im selben Monat erfuhr sie, dass das Lazarett in Mährisch-Weißkirchen geschlossen wurde. Die russische Front war nach Galizien vorgerückt. Sie meldete sich erneut freiwillig beim Roten Kreuz, wurde aber nicht wieder zu einem Einsatz gerufen.

Nachdem sie ihr Griechisch-Examen bestanden hatte und keine weiteren Verpflichtungen anstanden, blieb Edith bei ihrer Mutter in Breslau und fuhrt mit ihrer Doktorarbeit fort.

Zitate aus:

Mass, Klaus (Hg.): Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere autobiographische Beiträge (Edith Stein Gesamtausgabe 1), Freiburg i. Br. 2002, S. 240, 252, 254–255, 272, 274, 279.