Hauptinhalt

„Aus dem Leben einer jüdischen Familie” und weitere autobiographische Beiträge

Es ist das Jahr 1910. Auguste Stein, Ediths Mutter, kauft das Haus in der Michaelisstraße.

VON SORGEN UND MISSSTÄNDEN IN DER FAMILIE

Einige Jahre vorher hatte sich die kurze Ehetragödie meiner Schwester Frieda abgespielt, und nicht
lange nach Frieda hatte sich Arno verheiratet. (…) Das geräumige Wohnhaus, das wir kurz nach
Friedas Hochzeit bezogen hatten, war für zwei Familien gebaut; es war vertikal geteilt und hatte
zwei Treppenhäuser. Arno und Martha wurden in dieses Haus mit aufgenommen. Eine Zeitlang
bewohnten wir gemeinsam die größere Seite und hatten die kleinere vermietet. Später erhielt das junge Ehepaar die kleinere Seite für sich und meine Mutter mit ihren vier Töchtern und der kleinen
Enkelin Erika die größere.“
[Und zwar: Frieda mit ihrer Tochter Erika, später Rosa, Erna und
Edith.]

Das Regiment im Hause war schon vor Jahrzehnten in die Hände meiner Schwester Róża
übergegangen. (…) Obgleich sie in der Haushaltsführung sehr selbstständig war, konnte sie sich
doch nie ganz als die Hausfrau fühlen, Mutter und Schwestern hatte ihre bestimmten Wünsche, auf
die sie Rücksicht nehmen musste, wenn sie sich häufig erst mit heftigen Worten dagegen sträubte
.“

VON DER SCHULE

Meine Gymnasialjahre waren eine glückliche Zeit. In der Obersekunda kostete das Eingewöhnen
noch einige Anstrengungen; die beiden Primen aber waren wie ein Spiel. Wenn wir nicht geraden
einen Aufsatz zu machen hatten, war ich um 4 Uhr fast immer mit meinen Arbeiten fertig und hatte
den Rest des Nachmittags frei für meine Lieblingsbeschäftigungen. Was ich damals an schöner
Literatur las, war ein Vorrat fürs ganze Leben. Es wurde mir später sehr nützlich, als ich selbst
Literatur-Unterricht zu geben hatte. Noch größere Freude als das Lesen machte mir der Besuch des
Theaters. Wenn in jenen Jahren die Aufführung eines klassischen Dramas angekündigt wurde, so
war mir das immer wie eine persönliche Einladung. Es war schon beglückend, im Theaterraum zu
sitzen und zu warten, bis der schwere eiserne Vorhang langsam in die Höhe ging – das
Klingelzeichen ertönte , endlich die neue, fremde Welt sich öffnete. Dann lebte ich ganz in dem
Geschehen auf der Bühne, und der Alltag versank. (…) Als das Abitur herannahte, wurde es für alle
Zeit, ernstlich an die Berufswahl zu denken.

Als es schon in der weiteren Familie bekannt war, dass ich mich vorbereitete, erkundigte sich mein
Vater Franz einmal in einem größeren Kreis, was ich denn studieren wolle. Ich ließ ihn raten. Er
riet alle Fakultäten durch. Schließlich sagte er: „Ich weiß – Literaturgeschichte“, ich nickte:
„Literatur und Philosophie.“ Das Gesicht meiner Schwester Frieda war bei diesem Gespräch lang
und länger geworden. Ich schien ja ans praktische Leben überhaupt nicht zu denken! Ich las ihr das
Entsetzen vom Gesicht ab und lächelte im Stillen darüber. In der Tat lag mir jede Sorge um das
tägliche Brot fern. Aber ich begriff wohl, dass ich auf meine Angehörigen Rücksicht nehmen
musste. (…) Meine Berufswahl wurde von niemandem durchkreuzt. Meine Mutter hielt ihre
schützende Hand darüber. (…) „Tu, was du für richtig hältst.“ So konnte ich unbekümmert meinen
Weg gehen
.“

VOM STUDIUM

Ich litt damals unter meiner Freiheit keineswegs. Ich ließ es mir an der vollbesetzten Tafel wohl
sein und schwamm seelenvergnügt wie ein Fisch im klaren Wasser und bei warmem Sonnenschein.
(…
)
Das alte graue Gebäude an der Oder war mir schnell eine liebe Heimat geworden. In freien
Stunden setzte ich mich gern in einem leeren Hörsaal auf eins der breiten Fensterbretter, die die
tiefen Mauernischen ausfüllten, und arbeitete dort. Von diesem Hochsitz konnte ich auf den Fluss
und die belebte Universitätsbrücke hinaussehen und kam mir vor wie ein Burgfräulein. Ebenso
heimisch fühlte ich mich in dem nahgelegenen, ebenso ehrwürdigen Konviktgebäude, wo wir das
psychologische und philologische Seminar hatten, und in der Universitätsbibliothek.

Erna, Ediths Schwester, erinnert sich:

„Die Studentenjahren waren für uns eine Zeit ernster Arbeit,
aber auch wunderschöner Geselligkeit. Wir hatten eine Menge Freunde beiderlei Geschlechts erworben, mit denen wir unsere Freizeit und Ferien in für damalige Zeit großer Freiheit und Vorurteilslosigkeit verlebten. Wir hatten Diskussionen über wissenschaftliche und soziale Themen im größeren Zirkel oder im engen Freundeskreis. Edith war uns allen maßgebend wegen ihrer unbeirrbaren Logik und ihrer großen Kenntnis in literarischen und philosophischen Fragen.

Und Edith schreibt:

Wenn die vielen allgemein-studentischen Angelegenheiten und freundschaftlichen Beziehungen der
Arbeit nicht schadeten, so hatte doch etwas anderes darunter zu leiden: Für das Familienleben
blieb mir kaum noch Zeit übrig. Meine Angehörigen bekamen mich fast nur noch bei den
Mahlzeiten zu sehen- und auch dann nicht einmal immer. Kam ich zu Tisch, so waren meine
Gedanken meist noch bei der Arbeit, und ich sprach wenig.(…) Ich hatte es schwerer als Erna, von
meinem Studium zu erzählen. In den Kliniken gab es immer Erlebnisse, für die jedermann
Verständnis und Interesse hatte. Aber meine philosophischen Probleme waren nichts für den
Familientisch. (…) Es geschah auch nicht selten, dass mich meine Mutter den ganzen Tag, ja
manchmal zwei Tage lang überhaupt nicht zu sehen bekam. Früh ging sie oft schon ins Geschäft,
ehe ich zum Frühstück herunterkam. (…) Kam ich dann nach Hause, so schlief schon alles; auf dem
Tisch im Eßzimmer erwartete mich ein liebevoll bereitgestellter kleiner Imbiss und eingelaufene
Post.

Vier Semester hatte ich an der Universität Breslau studiert. Ich hatte am Leben dieser „alma
mater“ wie wohl nur wenige Studenten teilgenommen und es mochte scheinen, als sei ich so mit ihr
verwachsen, dass ich mich nicht freiwillig von ihr trennen würde. Aber hier wie später noch oft im
Leben konnte ich die scheinbar festesten Bande mit einer leichten Bewegung abstreifen und
davonfliegen wie in Vogel, der der Schlinge entronnen ist. (…) In meinem vierten Semester bekam

ich den Eindruck, dass Breslau mir nichts mehr zu bieten hätte und dass ich neue Anregungen
brauchte. (…) Im Sommer 1912 und im Winter 1912/13 wurden in Sterns Seminar Probleme der
Denkpsychologie behandelt, hauptsächlich im Anschluss an die Arbeiten der „Würzburger Schule“.
(…) Ich übernahm in beiden Semestern ein Referat.(…) Eines Tages traf mich Dr. Moskiewicz bei
dieser Beschäftigung im Psychologischen Seminar. „Lassen Sie doch all das Zeug“, sagte er, „und
lesen Sie das hier; die andern Leuten haben ja doch alles nur daher.“ Er reichte mir ein dickes
Buch, es war der II. Band von Husserls „Logischen Untersuchungen“. (…) Eines Tages war in den
illustrierten Zeitungen das Bild einer Göttinger Studentin zu sehen, die eine philosophische
Preisarbeit gemacht hatte: Husserls glänzend begabte Schülerin Hedwig Martius. Mos kannte auch
sie und wusste, dass sie sich eben mit einem älteren Husserlsschüler, Hans Theodor Conrad,
verheiratet hatte. Als ich einmal wieder abends spät nach Hause kam, fand ich auf dem Tisch einen
Brief aus Göttingen. Mein Vetter Richard Courant war seit kurzem dort Privatdozent für
Mathematik und hatte sich mit seiner Studienfreundin Nelli Neumann, einer Breslauerin,
verheiratet. Dieser Brief war von Nelli an meine Mutter gerichtet und enthielt den Dank für unser
Hochzeitsgeschenk. Er schilderte auch das Leben des jungen Paares; und dabei kam dann der Satz:
„Richard hat viele Freunde, aber wenig Freundinnen mit in die Ehe gebracht. Möchtest du nicht
Erna und Edith zum Studium herschicken? Das wäre dann etwas Ausgleich.“ Dies war der letzte
Tropfen, der bei mir grade noch fehlte.
Am nächsten Tage teilte ich der staunenden Familie mit, dass ich im kommenden Sommersemester
nach Göttingen gehen wolle. Da ihnen die ganze vorausgehende Entwicklung unbekannt war, kam
es wie ein Blitz aus heiterem Himmel.Meine Mutter sagte: „Wenn es für dein Studium nötig ist, will
ich dir gewiss nicht im Wege sein.“ Aber sie war sehr traurig – viel trauriger als es der Trennung
für ein kurzes Sommersemester entsprach
.“

Erinnerungen von Erna Biberstein:

Als sie später mit einer unserer gemeinsamen Freundinnen nach Göttingen ging, um Geschichte
und Philosophie zu studieren, erwarb sie auch dort viele neue Freunde, die ihr fürs Leben treu
blieben. Aber unser alter Kreis blieb für sie unverändert, und sie hielt ihm die alte Treue. (…) Als
sie 1916 nach Freiburg ging, um bei ihrem Göttinger Professor Husserl Privatassistentin zu
werden, beschlossen zwei unseres alten Kreises (…), und ich, unseren Sommerurlaub 1917 mit ihr
im Schwarzwald zu verbringen. Auch diese Zeit steht als eine leuchtende Erinnerung deutlich vor
mir, obwohl wir alle unter dem Druck des Krieges standen. (…) Im September 1921 wurde unser
erstes Kind, Susanne, geboren, und Edith, die gerade zu Hause war, pflegte mich in rührender
Weise. Allerdings fiel ein starker Schatten auf die sonst so glückliche Zeit. Sie vertraute mir ihren
Entschluss an, zum Katholizismus überzutreten, und bat mich, unsere Mutter mit diesem Gedanken
vertraut zu machen. Ich wusste, dass das eine der schwersten Aufgaben war, denen ich jemals
gegenübergestanden hatte. So sehr meine Mutter sonst für alles Verständnis und uns Kindern
weitgehend Freiheit in allen Fragen gelassen hatte, bedeutete dieser Entschluss den schwersten
Schlag für sie. (…) Auch nach ihrem Übertritt kam sie weiter regelmäßig nach Hause. Sie pflegte
mich auch bei der Geburt unseres Sohnes Ernst Ludwig, und sie liebte beide Kinder. Wie übrigens
alle Neffen und Nichten, zärtlich und wurde von ihnen ebenso geliebt und verehrt. Ich erinnere
mich besonders, wie sie oft, während sie in ihrem arbeitete, eins der Kinder bei sich hatte und mit
irgendeinem Buche beschäftigte, und sie dabei sehr glücklich und zufrieden waren.
Als 1933 Edith wegen ihrer jüdischen Abstammung ihre Stellung als Dozentin an der katholischen
Akademie in Münster aufgeben musste, kam sie wieder nach Hause. Auch jetzt war ich wieder ihre
Vertraute, der sie ihren Entschluss, ins Karmeliterinnenkolster in Köln einzutreten, als erster
mitteilte.

IN DEN KARMEL

Der letzte Tag, den ich zu Hause verbrachte, war der 12. Oktober, mein Geburtstag. Es war
zugleich ein jüdischer Festtag, der Abschluss des Laubhüttenfestes. Meine Mutter besuchte den
Gottesdienst in der Synagoge des Rabbinerseminars. Ich begleitete sie, weil wir diesen Tag
möglichst ganz gemeinsam verbringen wollten. Erikas Lieblingslehrer, ein bedeutender Gelehrter,
hielt eine schöne Predigt. (…) „War die Predigt nicht schön?“- „Ja.“- „Man kann also auch
jüdisch fromm sein?“ – „Gewiss, wenn man nichts anderes kennen gelernt hat.“ Nun kam es
verzweifelt zurück: „Warum hast du es kennengelernt? Ich will nichts gegen ihn sagen. Er mag ein
sehr guter Mensch gewesen sein. Aber warum hat er sich zu Gott gemacht?“ (…) Es kamen
nachmittags und abends viele Gäste: die Geschwister alle, ihre Kinder, meine Freundinnen. Das
war gut, weil es etwas ablenkte. Aber schwer wurde es, als dann eines nach dem anderen Abschied
nahm und ging. Am Ende blieben meine Mutter und ich allein im Zimmer. (…) da legte sie das
Gesicht in die Hände und fing an zu weinen. Ich stellte mich hinter ihren Stuhl und nahm den
silberweißen kopf an meine Brust. So blieben wir lange, bis sie sich zureden ließ, zu Bett zu gehen.
(…) Mein Zug ging etwa früh um 8 ab. (…) Um halb 6 ging wie immer aus dem Haus, zur ersten hl.
Messe in der Michaeliskirche.Dann fanden wir uns am Frühstückstisch zusammen. (…) Am Ende
sagte meine Mutter: „Der Ewige steh‘ dir bei!“ Als ich Erna umarmte, weinte meine Mutter laut
auf. Ich ging schnell hinaus. Rosa und Else folgten mir. Als die Straßenbahn an unserem Haus
vorbeifuhr, war niemand am Fenster, um – wie sonst- zum letzten Lebewohl zu winken.

Erinnerung von Erna:

Auch für uns war der Abschied diesmal viel einschneidender, wenn Edith selbst es auch nicht
zugeben wollte und auch vom Kloster aus in alter Liebe und Zugehörigkeit mit unverändertem
Interesse an allem teilnahm.

Als ich im Februar 1939 mit meinen Kindern nach Amerika meinem Manne nachging, wollte sie
gern, dass wir sie in Echt, wohin sie inzwischen übergesiedelt war, besuchen sollten. Wir hatten aber Fahrkarten über Hamburg und da die holländische Grenze als besonders unangenehm galt,
wollten wir es nicht tun. Wir standen war weiter breiflich in Verbindung, und ich war jetzt
einigermaßen beruhigt, dass sie im Frieden des Klosters vor dem Zugriff Hilters gesichtert sei,
ebenso wie meine Schwester Rosa, die durch Ediths Vermittlung auch in Echt eine Zuflucht
gefunden hatte.

Leider erwies sich dieser Glaube als unberechtigt. Die Nazis macht auch vor dem Kloster nicht
halzt, sondern deportierten meine beiden Schwestern am 2. August 1942. Seitdem ist jede Spur von
ihnen verschwunden
.“