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Rede von Sophie Binggeli – Preisträgerin des St.-Edith-Stein-Preises

Zunächst möchte ich Ihnen für die Ehre danken, mich mit dem St.-Edith-Stein-Preis auszuzeichnen. Ich freue mich auch, dass Schwester Cécile Rastoin, Priorin des Klosters der Unbeschuhten Karmelitinnen in Montmartre, Paris, den Preis ebenfalls erhält. Wir arbeiten oft zusammen, um unser Verständnis der Person und des Denkens der heiligen Teresa Benedicta vom Kreuz zu vertiefen, und unsere Edith-Stein-Studiengruppe trifft sich regelmäßig im Karmelitinnenkloster in Montmartre.

Die jahrelange Beschäftigung mit den Werken Edith Steins hat es mir ermöglicht, mich mit ihr anzufreunden, oder besser gesagt, sie hat eine echte Bindung zu mir aufgebaut. Bei meinen vielen Besuchen im Edith-Stein-Archiv im Karmeliterkloster in Köln konnte ich viele verschiedene Edith-Stein-Manuskripte in die Hand nehmen, die inzwischen alle digitalisiert sind. Damals arbeitete ich mit Schwester Maria-Amata Neyer zusammen, die Edith sehr nahe stand. Schwester Amata war selbst im Alter von 20 Jahren, 1942 oder 1943, in den Kölner Karmel eingetreten und kannte auch Teresa Renata Posselt, die Autorin der ersten Edith-Biographie, sehr gut. Im Jahr 2000 und in den folgenden Jahren habe ich an der Edith-Stein-Gesamtausgabe, insbesondere an den Bänden 13 und 20, mitgearbeitet und möchte hier eine persönliche Anmerkung hinzufügen: Edith Stein und Rosa sollten 1942 in die Schweiz in das Karmeliterkloster in Pâquier gehen, in dessen Nähe ich in meiner Jugend lebte. Ich kenne also die heilige Teresa Benedicta vom Kreuz seit langem.

Hier in Breslau (Wroclaw) fühle ich mich glücklich, wenn ich die Seiten über Ediths Leben durchblättere. Es gibt hier auch so viele Orte, die mir von ihr erzählen. Ich habe mehrere Pilgerreisen auf Ediths Spuren unternommen, und jedes Mal, wenn ich Orte in Breslau besuchte, die mit ihr in Verbindung stehen, konnte ich sie besser kennenlernen. Ihr Familienhaus, das dank der Edith-Stein-Gesellschaft so gut erhalten ist, hat uns jedes Mal herzlich empfangen.

Ich möchte kurz ein paar Familienereignisse erwähnen, die mich besonders bewegen. Über allem steht Rosa, die ältere Schwester, die ihrer jüngeren Schwester auf ihrem Weg zum Glauben folgte. Ich zitiere gerne die Passage, in der sich Edith an die letzten Augenblicke erinnert, bevor der Zug losfuhr und sie nach Köln brachte, am 13. Oktober 1933 um 7.54 Uhr, nach einer gemeinsamen Morgenmesse in der St.-Michaelis-Kirche: „Rosa war so ruhig, als ginge sie mit mir in den Frieden des Klosters.“[1] Edith beschrieb in „Aus dem Leben einer jüdischen Familie“ nicht, wie Rosa den gleichen Weg wie sie einschlug, obwohl sie die Absichten ihrer Schwester kannte. Edith, Rosa und ihre Mutter Augusta waren eng miteinander verbunden; Augusta Stein stirbt am 14. September 1936, als Edith gerade ihr Gelübde erneuert. Rosa wartete mit der Taufe bis nach dem Tod ihrer Mutter, um ihr nicht noch mehr Leid zuzufügen. Als sie am 16. Dezember 1936 in Köln eintrifft, um ihre Schwester zum ersten Mal seit ihrer Abreise ins Kloster zu sehen, hat die göttliche Vorsehung alles vorbereitet! Am Tag vor Rosas Ankunft, am 14. Dezember 1936, stürzte Edith die Treppe hinunter und brach sich den linken Arm und den linken Fuß. So trifft Rosa ihre Schwester nicht hinter den doppelten Gitterstäben des Sprechzimmers im Karmelitinnenkloster, sondern an ihrem Bett im Krankenhaus. Am 24. Dezember 1936 wird Rosa in der Kirche St. Elisabeth im Krankenhaus in Köln-Lindenthal um 16 Uhr im Beisein von Edith getauft und empfängt die Erstkommunion. Als Taufkleid trägt sie das weiße Karmeliter-Betttuch ihrer Schwester Edith.

Zum Jahrestag der Taufe von Rosa verfasst Edith das Gebet „Heilige Nacht“:

Mein Herr und Gott,
Du hast mich einen langen, dunklen Weg geführt,
Steinig und hart.
Oft wollten meine Kräfte mir versagen,
Fast hofft‘ ich nimmer, je das Licht zu seh’n.‘
Doch als im tiefsten Schmerz mein Herz erstarrte,
Da ging ein klarer, milder Stern mir auf.
Er führte mich getreu – ich folgt‘ ihm,
Zagend erst, dann immer sich’rer
[…] Das Geheimnis, das ich im Herzen tief verbergen mußte,
Nun darf ich laut es künden:
Ich glaube – ich bekenne!
Der Priester geleitet mich die Stufen zum Altar hinauf:
Ich neige die Stirn –
Das heil’ge Wasser fließt mir übers Haupt.
Ist’s möglich Herr, daß einer neu geboren wird,
Der schon des Lebens Mitte überschritten?
Du hast’s gesagt, und mir ward’s Wirklichkeit.

Wenn ich dieses Gebet lese, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Zeilen sowohl auf Rosa als auch auf Edith selbst zutreffen. Ihre Wege werden sich zuerst in Echt, im Schatten des Karmel, kreuzen; ein gemeinsames Schicksal wird sie mit dem jüdischen Volk in dem unermesslichen Drama der Shoah vereinen.

Ich möchte auch Ediths Vater und Mutter erwähnen, da ich gerne ihre Gräber auf dem jüdischen Friedhof besuche, wo sie jetzt ruhen. Am Jahrestag von Ediths Geburt, am Fest Jom Kippur, wie könnte ich da nicht an Ediths jüdische Wurzeln und das Zeugnis ihrer Mutter erinnert werden. Mit ungemein schmerzhaftem Respekt blickt der eine auf den Glauben des anderen. Auf dem Rückweg von der Synagoge begann ihre Mutter, die wusste, dass Edith sie verlassen und in ein Karmeliterkloster in Köln eintreten würde, einen Dialog:

„War die Predigt nicht schön?“ „Ja.“ „Man kann also auch jüdisch fromm sein?“ Gewiss, wenn man nicht anderes gelernt hat.“ Nun kam es verzweifelt zurück: „Warum hast du es kennengelernt? Ich will nichts gegen ihn sagen. Er mag ein sehr guter Mensch gewesen sein. Aber warum hat er sich zu Gott gemacht?”[2]

Für Edith steht der Wert des Glaubens ihrer Mutter und ihrer Fürsprachekraft außer Frage.

„Die Nachricht von ihrer Konversion war ein völlig unbegründetes Gerücht. Wer es aufgebracht haben mag, weiß ich nicht. Meine Mutter hat bis zuletzt an ihrem Glauben festgehalten. Aber weil ihr Glaube und das feste Vertrauen auf ihren Gott von der frühesten Kinderzeit bis in ihr 87. Jahr durchgehalten hat und das Letzte war, was noch in ihrem schweren Todeskampf in ihr lebendig blieb, darum habe ich die Zuversicht, daß sie einen sehr gnädigen Richter gefunden hat und jetzt meine treueste Helferin ist, damit ich ans Ziel komme.“[3]

Bei ihrer Seligsprechung am 1. Mai 1987 in Köln nannte Johannes Paul II. Edith Stein  „Tochter Israels”; „diese bemerkenswerte Tochter Israels […] war auch eine Tochter des Karmel ”; „eine authentische Anbeterin Gottes – im Geist und in der Wahrheit ”.[4]

Der Heiligsprechung in Rom am 11. Oktober 1998 folgte die Veröffentlichung der Enzyklika Fides et Ratio (14. September 1998), in dem Johannes Paul II. Edith Stein unter anderen Denkern für ihre „mutige Forschung“ über „eine fruchtbare Beziehung zwischen Philosophie und dem Wort Gottes“ auflistete.

Im Motu Proprio zur Proklamation der Schutzpatrone Europas vom 1. Oktober 1999 weist Johannes Paul II. Edith Stein einen wichtigen Platz zu:

„Mit ihrem ganzen Leben als Denkerin, Mystikerin und Märtyrerin überquerte [Edith Stein] gleichsam die Brücke zwischen ihrer jüdischen Herkunft und ihrem Glauben an Christus, indem sie mit untrüglichem Gespür den Dialog mit dem zeitgenössischen philosophischen Denken aufnahm und schließlich durch ihren Märtyrertod – im Angesicht der schrecklichen Schande der „Shoah“ – zur Anwältin des Rechts Gottes und des Menschen wurde. So wurde sie zu einem Symbol für die Veränderungen im Menschen, in der Kultur und in der Religion, in denen der Keim der Tragödie und der Hoffnung des europäischen Kontinents liegt.”[5]

Auch zeigt Paul II. sein Interesse an Ediths Gedanken zur Rolle der Frau: „Äußerst aufschlussreich sind auch die Texte, in denen sie den Reichtum der Weiblichkeit und die Aufgabe der Frau aus menschlicher und religiöser Sicht erkundet.“[6]

An dieser Stelle möchte ich mit Dankbarkeit daran erinnern, dass es St. Johannes Paul II. zu verdanken ist, dass Edith zu den Altären erhoben wurde: selig, heilig und Mit-Schutzpatronin Europas.

Wie können wir nicht hoffen, dass sie bald den Titel eines Doktors der Kirche erhält? Dies sind die Elemente einer herausragenden Lehre, die ich für meinen Teil in ihrem Leben und in ihren Schriften hervorhebe:

  1. Die Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Bund, Jesus Christus als Hohepriester, Jom Kippur und Karfreitag; Esther und Maria, Israel und die Kirche
  2. Die Erfahrung der Wahrheitssuche: Phänomenologie und die Wissenschaft vom Kreuz
  3. Eine konkrete Anthropologie, die es ermöglicht, die Besonderheit der menschlichen Person mit der geistigen Dimension des menschlichen Körpers, des menschlichen Selbst, der Freiheit, des Unterschieds zwischen Mann und Frau usw. zu erkennen
  4. Die menschliche und spirituelle Erfahrung der Suche nach dem Sinn des persönlichen Lebens und der menschlichen Geschichte
  5. Die Taufe als Geheimnis des Bundes für einer Welt „in Flammen”
  6. Die menschliche und spirituelle Erfahrung der Suche nach dem Sinn des persönlichen Lebens und der menschlichen Geschichte

Hier in Breslau hoffe ich von ganzem Herzen zusammen mit der Edith-Stein-Gesellschaft, dem Karmeliterorden und der gesamten Kirche, dass Edith Stein zur Doktorin der Kirche erklärt wird, um der Männer und Frauen willen, die in unser vom Feuer verzehrten Welt nach Sinn suchen.


[1] Stein, Edith: Aus dem Leben einer jüdischen Familie und weitere autobiographische Beiträge. Unter Mitarbeit von Maria-Amata Neyer OCD, Freiburg (u.a.) 2002, S. 361.

[2] Ebd. S. 360.

[3] Edith Stein, Selbstbildnis in Briefen II (1933-1942), Freiburg (u.a.) 2000, S. 230.

[4] Online verfügbar unter: https://opoka.org.pl/biblioteka/W/WP/jan_pawel_ii/encykliki/fides_ratio_6.html., Nr. 74.

[5] Online verfügbar unter: https://opoka.org.pl/biblioteka/W/WP/jan_pawel_ii/motu/patronki_europy.html, Nr. 3, zuletzt geprüft am 20.12.2002.

[6] Ebd., Nr. 8.