Am 1. Mai feiern wir einen weiteren Jahrestag der Seligsprechung von Edith Stein, Schwester Teresia Benedicta vom Kreuz. Im Folgenden zitieren wir einige Gedanken von Susanne Batzdorff, ihrer Nichte, die zusammen mit zwanzig weiteren Familienmitgliedern an der Seligsprechungszeremonie 1987 in Köln teilnahm.
„Mein eigenes Engagement für den jüdisch-polnischen Dialog habe ich vor Jahren von meiner Mutter übernommen. Als einzige Überlebende der Geschwister Edith Steins hatte sie einen immensen, weltweiten Briefwechsel mit vielen Menschen geführt, die an Edith Stein interessiert waren. Manche waren wissenschaftlich, andere nur allgemein interessiert, und wieder andere, die selbst vom Judentum zum Katholizismus konvertiert waren, sahen in Edith eine Gleichgesinnte. Für viele Menschen stellte Edith eine Art Verschmelzung zwischen Judentum und Christentum dar. […] Damals wurde mir klar, daß im Brennpunkt der Diskussion die Frage steht: ‚Ist Edith Stein eine Gestalt der Versöhnung oder der Entzweiung im katholisch-jüdischen Dialog und ein Hindernis in dem Bestreben nach Annäherung?‘ Das ist die Frage, mit der die Edith-Stein-Gesellschaften in verschiedenen Teilen der Welt ringen, und sie taucht jedesmal auf, wenn der Name Edith Stein fällt. Selbst unter den Verwandten wird diese Frage heftig debattiert und erörtert. […] Edith Steins Seligsprechung in Köln am 1. Mai 1987 bot mehrere Gelegenheiten, über diese Dinge zu sprechen. Edith Steins Neffen und Nichten, die der Seligsprechung beiwohnten, waren nicht alle jüdisch. […] Anlässlich der Seligsprechung unserer Tante Edith kamen in unseren Unterhaltungen sehr verschiedene Meinungen über die Bedeutung dieses Ereignisses und über die Symbolik von Edith Stein zutage. Das Erfreulichste an diesem Familientreffen war unser Gefühl der Zusammengehörigkeit. Als alles vorüber war, setzten wir die Diskussionen und Debatten fort. Wir kamen nicht auf einen Schlag zu einem Einverständnis, aber wir hatten einen Weg gefunden, einander zu verstehen und unsere familiäre Bindung nicht zu vergessen. […] In kleinem Maßstab spiegelt die Familie Steins die Familie der Menschheit wider. So wie die Familie Stein trotz unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Glaubensrichtungen zusammenkommen konnte, so können Juden und Christen in einer Atmosphäre des Friedens und guten Willens zusammenkommen, um ein Gespräch miteinander zu beginnen, zu versuchen, sich gegenseitig zu verstehen und einen Weg zu finden, um Verschiedenheiten zu überbrücken. Manchmal werden die Diskussionen in unserer Großfamilie ziemlich heftig, doch respektieren wir das Recht der anderen, anderer Meinung zu sein. Nach den politischen Umwälzungen, die uns in alle Winde verstreut haben, weigern wir uns, uns von ideologischen und religiösen Differenzen auseinanderdividieren zu lassen. Der Begriff „Familie“ muß ein einigendes Prinzip bleiben. Meine Kontakte mit Menschen, die, ob einzeln oder in Gruppen, das Gespräch suchen, sind recht aufschlußreich und anregend. Wo immer wir Orte, die mit Edith Stein verbunden sind, besucht haben, wurden wir sehr herzlich aufgenommen. Meine Besuche in verschiedenen Karmelklöstern haben auch zu meinem Verständnis des Lebens meiner Tante im Orden beigetragen. Wir haben Karmelklöster in Deutschland, Polen und einigen amerikanischen Städten besucht und festgestellt, daß sie doch sehr verschieden sind. […] Die Christen und Juden haben schon einen langen Weg in ihrem Streben nach Annäherung und besserem gegenseitigen Verständnis zurückgelegt, aber unsere Arbeit ist noch nicht beendet. Wir müssen mit offener Bereitschaft und gegenseitiger Achtung den Glauben und die Weltanschauung des anderen kennenlernen und einander das Recht zugestehen, anders zu sein und auf unsere eigene Art unsere Religion auszuüben.“
Susanne M. Batzdorff, Edith Stein – meine Tante. Das jüdische Erbe einer katholischen Heiligen, Würzburg 2000, S. 173–176/179.