Im Juni 1995 besuchte Susanne Batzdorff, Ediths Nichte und Tochter Ernas, als erstes Mitglied der Familie Stein nach dem Krieg das Haus der Familie, das zugleich ihr Geburtshaus ist. Diesen besonderen Moment der Rückkehr an den Ort ihrer glücklichen Kindheit, die durch den Holocaust dramatisch durchbrochen wurde, beschrieb sie in einem Gedicht …
Der Schlüssel dreht sich
Zögernd, die vertraute Tür zu öffnen.
Innen ist Leere,
Graue, rußige Wände,
Knarrende Geländer kriechen
Die Wendeltreppe entlang.
Sind hier einst flinke Füßchen
Gehüpft und gesprungen,
Die Stufen doppelt nehmend,
In längst vergangener Zeit,
In der Zeit vor der Zeit?
Familienleben,
Stimmen, Gelächter,
Gesang, Klavierakkorde,
Wo sind sie hin?
Selbst die Gespenster
Vermeiden diese bloßen Räume.––
Können diese Knochen leben?
Können diese Wände sprechen?
Zu mir sprechen sie nicht.
Erinnerungen sind entflohen,
An diesen Wänden finden sie keinen Halt.
Vielleicht folgten sie uns,
Als wir fort mußten,
In fremde Länder,
Um uns sanft wie Samt
Zu umhüllen.
Dies ist das Haus,
Das so manches erzählen könnte,
Jedoch nicht mir.
Ich muß jetzt ausschauen
Nach andern Ufern,
Wo die Zukunft liegt,
Wo Kinder aufwachsen,
Wo flinke Füßchen
Andere Treppen hinunterhüpfen.
Muß diesen Ort verlassen,
Endgültig.
Dies Haus, so viel älter als ich,
Hat Neues zu erleben.
Und meine Erinnerungen?
Die leben in mir.
Gedicht aus: Susanne M. Batzdorff, Edith Stein – meine Tante. Das jüdische Erbe einer katholischen Heiligen, Würzburg 2000, S. 80–81.