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Zeugnis von Schwester Cécile Rastoin – Preisträgerin des St. Edith Stein Preises

CÉCILE RASTOIN – Priorin des Klosters der Unbeschuhten Karmelitinnen in Montmartre (Paris), Preisträgerin des St.-Edith-Stein-Preises 2022

Liebe Freunde,

ich fühle mich geehrt, heute den St.-Edith-Stein-Preis zu erhalten und danke der Edith-Stein-Gesellschaft für diese unerwartete Auszeichnung.

Die Geschichte meiner Bekanntschaft mit Edith Stein reicht weit zurück, 40 Jahre. Eine biblische Zahl par excellence, um diese Reise gemeinsam zu erzählen!… Eines Tages, als wir mit der ganzen Familie nach Deutschland reisten, schlug meine Mutter vor, dass wir im Karmeliterkloster in Köln Halt machen sollten, wo sie eines der Bücher der Philosophin Edith Stein kaufen wollte. Ich war damals Gymnasiast und lernte Deutsch, und so bekam ich eine nicht allzu schwere Lektüre mit dem Titel Das Gebet der Kirche geschenkt. Für mich, der ich gleichzeitig die jüdische Tradition kennenlernte, erschien dieser Text von Edith Stein wie ein Lichtstrahl, der Dinge erhellte, die ich wahrnahm, ohne die Worte zu finden, um sie zu benennen: Jesus war ein praktizierender, gesetzestreuer Jude, Edith Stein sah die tiefe Verbundenheit des göttlichen Plans, die Einheit zwischen dem am Sinai gegebenen Bund und dem in Jesus offenbarten. Seit diesem Tag habe ich Das Gebet der Kirche wie einen kostbaren Schatz gehütet.

Erst einige Jahre später, schon als Studentin, habe ich die Werke von Edith Stein wirklich gelesen, insbesondere Kreuzwissenschaft. Ich sah alles in einem neuen Licht, was mir half, den inneren Weg zur Vereinigung mit dem Herrn zu verstehen. Für mich ist es Teresa Benedicta vom Kreuz!

Als ich vor 27 Jahren in das Karmel eintrat, war ich überzeugt, dass ich mit jeglicher intellektuellen Arbeit brechen würde. Aber ein Karmeliterbruder, Pater Didier-Marie Golay, suchte nach Übersetzern. So begann ich noch im Noviziat, die Werke von Edith Stein zu übersetzen: zunächst die geistlichen Werke, die sie als Novizin schrieb. Es hat mich gereizt, das Gebet der Kirche zu übersetzen, das mir als Teenager als geistige Nahrung diente. Es folgten Aus dem Leben einer jüdischen Familie und die Briefe. Hier muss ich mich für die Freundlichkeit und das immense Wissen von Mutter Amata Neyer bedanken. Ohne sie wäre die Arbeit der Kommentierung dieser Werke eine reine Übersetzungsarbeit gewesen. Dank ihr war es eine echte „polizeiliche Untersuchung“ mit faszinierenden Entdeckungen, einschließlich der französischen Ursprünge von Edith Steins karmelitischer Spiritualität. Schließlich übersetzte ich Kreuzwissenschaft, das 2014 auf Französisch veröffentlicht wurde. Es machte mir die Präzision und wissenschaftliche Integrität von Edith Stein bewusst, die französische, lateinische, griechische und spanische Quellentexte für ihre intellektuelle und spirituelle Forschung erforschte.

Die Verleihung des Edith-Stein-Preises erlaubt es mir heute, den Weg zu bewerten, den Edith Stein eingeschlagen hat, um sich in Frankreich bekannt zu machen. Im Jahr 2005 hatte Mutter Amata die Idee, gemeinsam mit Sophie Binggeli die Werke von Edith Stein in französischer Sprache zu verbreiten. So arbeiten wir heute im Rahmen der Forschungsgruppe des Collège des Bernardins, über die Sophie zweifellos sprechen wird.

Meiner Meinung nach verdient es Edith Stein, zum Doktor der Kirche ernannt zu werden, und zwar wegen der Eminenz ihrer Lehre, ihres allgegenwärtigen Prophetentums und der Universalität ihres Denkens. Daran arbeite ich derzeit. Bereits 2005, während des Weltjugendtages, bat Schwester Margareta (des Karmels in Köln) Papst Benedikt XVI. mit wahrhaft karmelitischer Kühnheit, Edith Stein zur Doktorin der Kirche zu ernennen! Edith Steins Worte waren in den 1930er Jahren prophetisch und scheinen in den heutigen Debatten noch aktueller zu sein. Sie könnte eine fantastische Botschafterin des katholischen Denkens sein, intellektuell aufgeschlossen, ethisch herausfordernd und spirituell anregend.

Edith Stein hat die Verbindung zwischen Judentum und Christentum revolutioniert. Sie beeinflusste Kardinal Lustiger, Erzbischof von Paris (1981-2005), der wie sie schlesische Wurzeln hatte, sowie das Denken des Heiligen Johannes Paul II. Sowohl ihre Schriften als auch ihre Lebenseinstellung (darunter ein prophetischer Brief an den Papst im Jahr 1933) öffnen den Weg zu einem neuen Verständnis der Bedeutung eines lebendigen Judentums für den modernen Christen. Mit diesem Thema beschäftige ich mich ständig, unter anderem in Enquête sur la Source (Untersuchung der Quelle), das ins Ungarische und bald auch ins Brasilianische und Portugiesische übersetzt wird.

Angesichts der Spaltungen zwischen den Christen demonstriert Edith Stein ihren Ökumenismus auf praktische Weise (ihre Patin war Protestantin), aber auch durch einen in der Heiligen Schrift verankerten Stil der kirchlichen Reflexion. „Die göttliche Barmherzigkeit macht nicht an den sichtbaren Grenzen der Kirche halt.“

Edith Stein kann auch als Pionierin des Feminismus betrachtet werden: Sie setzte sich für das Frauenwahlrecht, den Zugang zu Universitätsprofessuren usw. ein. Vor allem aber hat sie eine Reflexion über die Geschlechterdifferenz entwickelt, die ihrer Zeit voraus war. Wir wären heute in unseren gesellschaftlichen Debatten nicht dort, wo wir sind, wenn wir Katholiken ihr mehr zugehört und mehr gelernt hätten. Bereits in den 1930er Jahren forderte sie die Katholiken auf, eine kritische und konstruktive Reflexion zu entwickeln. In dieser Hinsicht erweist sie sich als Erbin des Judentums, das den Frauen einen sehr wichtigen Platz einräumt, ohne zu versuchen, die Unterschiede zu beseitigen. Sie kündigt jedoch mit Nachdruck an, dass die Rolle der christlichen Frau in Kirche und Gesellschaft an Bedeutung gewinnt. Sophie Binggeli hat sich eingehend mit diesem Thema befasst; auch ich habe versucht, hier meinen bescheidenen Beitrag zu leisten. Edith Stein kann heute der Kirche im Sinne von Johannes Paul II. helfen, eine Denkweise und Praxis der Geschlechtertrennung zu entwickeln, die dem heutigen Streben nach Gleichheit entspricht und gleichzeitig den Reichtum der Unterschiede bewahrt.

In ihrer Reflexion über den Staat und die verschiedenen sozialen Gemeinschaften deutet Edith Stein einen Personalismus an, der sich gegen den Konsumindividualismus ebenso wendet wie gegen alle Totalitarismen (ob nationalsozialistisch, kommunistisch oder anders). Lassen Sie mich ihn ausführlicher zitieren: „Der Individualismus betont allein das Recht des Individuums auf freie Entfaltung [und Bindungen zu lösen][…] Die entgegengesetzte Anschauung, die wir als Sozialismus bezeichnen können (ohne sie damit auf den bestimmten Parteistandpunkt festzulegen), ordnet das Individuum vollständig der Gesamtheit unter. […] Die Folgen sehen wir […] in der Herrschaft von Fabrikware und […] Dutzendmenschen, Dutzendanschauungen – leer und unwahr, ohne eigenes Gepräge der Seele.“ (Edith Stein Gesamtausgabe, Band 16, S. 22-23) So entwickelt er eine Vision eines anderen Weges für die Gesellschaft, den wir heute suchen müssen….

Bei all diesen Interessen blieb Edith Stein in ihrer Art, Fragen zu stellen, zutiefst phänomenologisch. Sie versuchte, eine „Brücke“ zwischen der zeitgenössischen Philosophie und dem Thomismus zu schlagen, wie sie es ausdrückte. Sie wollte zeigen, dass die Kirche sich nicht scheuen sollte, sich mit Unterscheidungsvermögen an den Denkströmungen der jeweiligen Epoche zu bereichern. Auf diese Weise wandte sich Karol Wojtyla zuerst an sie. Seine philosophische Reflexion ist nie von einem inneren, verinnerlichten und dann ausdrücklich mystischen Ansatz getrennt: Auf diese Weise knüpft er an die große Tradition der Kirche an, die Spiritualität und intellektuelle Reflexion nicht trennt. Sie ermöglicht es, aus der inneren Erfahrung des Karmel eine erneuerte Anthropologie aufzubauen. Das ist es, was mich auch als Karmelitin fasziniert.

Edith Stein ist eine Philosophin der Empathie, jenes universellen Zugangs zur Erfahrung des Nächsten, der jedem Menschen offensteht (das Thema ihrer Arbeit). Ihrer Meinung nach kann sich jeder Mensch durch Einfühlung in Jesus, den Gottmenschen, von Gott formen lassen, unabhängig von Herkunft, Fähigkeiten und Kultur. Durch Einfühlung können wir von Gott lernen, auf göttliche Weise zu lieben. Im Karmel vor allem durch Gebet und Gemeinschaftsleben.

Johannes Paul II. hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sich auf Edith Stein beruft: Dank ihr ist es ihm gelungen, jene Synthese zu schaffen, die das christliche Denken zwischen Gewissensfreiheit und Objektivität der Wahrheit sucht. Glaube und Vernunft, Männer und Frauen, Juden und Heiden, Freie und Versklavte: all diese Themen sind aktueller denn je; es wäre gerecht und edel, wenn die Kirche eine zum Schweigen gebrachte Person ehren würde! Edith Stein hat den Christen und der Welt auch heute noch viel zu sagen. Ihr Märtyrertod bringt sie in die Nähe derer, die durch barbarische Gewalt ums Leben kommen. Ihre Jugend als nicht religiös praktizierende Studentin macht sie für alle zugänglich, die suchen, ohne sich sicher zu sein. Sie, die den großen Johannes Paul II. direkt inspiriert hat, kann heute von der ganzen Kirche, auch über ihre sichtbaren Grenzen hinaus, als eine Frau gehört werden, die in allen Zellen ihres Wesens, ihres Herzens und ihres Geistes vom Geist Gottes erfüllt ist….